Allgemeine Wirtschaftspolitik

Allgemeine Wirtschaftspolitik
von Professor Dr. Bernd-Thomas Ramb
I. Begriff
Die Allgemeine Wirtschaftspolitik ist als theoretische Grundlage der Wirtschaftspolitik zu verstehen. Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Analyse spezieller Bereiche der Wirtschaftspolitik (z.B. Geld-, Finanz-, Einkommens-, Verteilungs-, Konjunktur-, Wachstums-, Beschäftigungspolitik etc.) befasst sich die Allgemeine Wirtschaftspolitik mit der grundsätzlichen Systematik wirtschaftspolitischer Handlungen weitgehend ohne den konkreten Bezug auf bestimmte ökonomische Ziele oder Gegebenheiten. Auch die Analyse bestimmter wirtschaftswissenschaftlicher Theorien, die politisch-praktische Relevanz besitzen, zählt nicht direkt zum Gegenstand der Allgemeinen Wirtschaftspolitik. Jedoch können diese und andere Theorien der  Makroökonomik zur praktischen Umsetzung der Allgemeinen Wirtschaftspolitik herangezogen werden. Die Allgemeine Wirtschaftspolitik bezeichnet daher die allgemeine Erklärung wirtschaftspolitischer Aktivitäten staatlicher Instanzen.
Synonyme Bezeichnungen sind Wissenschaftliche Wirtschaftspolitik, Theorie der Wirtschaftspolitik, Economic Policy, Principals of Political Economy, Applied Economics.
II. Entwicklung
Die Entwicklung der Allgemeinen Wirtschaftspolitik ist eng mit der Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft als wissenschaftliche Disziplin verknüpft. Im Allgemeinen wird das Werk von Smith (1776) „An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations“, als erste Schrift mit wirtschaftspolitischer Relevanz angesehen. Im Titel dieses Buches wird eine generelle Zielsetzung der Wirtschaftspolitik, im Inhalt ein Instrumentarium mit einer stark reduzierten Einflussnahme des Staates (Nachtwächterstaat) beschrieben. Nachfolgende Werke von Malthus, Mill und Ricardo prägen den Begriff der „Political Economy“ und vermehren mit der Funktionsausweitung auch das Steuerinstrumentarium des Staates. Mit den Schriften von Marx (1818–1883) beginnt der gesellschaftspolitische Anspruch an die Wirtschaftspolitik und die wissenschaftliche Wandlung von der Political Economy zur aktivistischen Economic Policy. Diese Wandlung mündet in die erste systematische Theorie einer praktischen Wirtschaftspolitik mit ausgeprägten staatlichen Interventionen, ausformuliert in dem Hauptwerk von Keynes (1936) „The General Theory of Employment, Interest and Money“. Die gleichzeitig beginnende wissenschaftliche Entwicklung der  Ökonometrie mit ihrer Konstruktion ökonomische Totalmodelle und der Vision der vollständigen Steuerbarkeit der Wirtschaft endet zunächst mit der heute eher skeptischen Einschätzung differenzierter wirtschaftspolitischer Lenkungsmöglichkeiten. Gleichzeitig setzt die Erweiterung der Allgemeinen Wirtschaftspolitik um die Betrachtung von institutionellen und prozessualen Grenzen ein ( Neue Politische Ökonomie).
III. Systematisierung
Um die Komplexität der Allgemeinen Wirtschaftspolitik zu strukturieren, werden verschiedentlich Aufteilungen vorgenommen, z.B. in die Gestaltung der Wirtschaftsordnung ( Ordnungsökonomik) und die Einflussnahme auf den wirtschaftlichen Ablauf ( Prozesspolitik); gelegentlich wird diese Form der Aufteilung ergänzt durch die Einflussnahme auf die Struktur der Wirtschaft ( Strukturpolitik). Eine andere Systematik folgt der Aufteilung in quantitative Wirtschaftspolitik und qualitative Wirtschaftspolitik. Daneben bestehen funktionelle Systematisierungen, die sich auf eine bestimmte Zielsetzung ( wirtschaftspolitische Ziele) oder auf den speziellen Instrumenteneinsatz ( wirtschaftspolitische Mittel) beziehen. Diese und andere Aufteilungen stellen für sich genommen jedoch schon Spezialisierungen dar, die auf allgemeine Prinzipien zurückgeführt werden können.
IV. Struktur
Unter der Beachtung des allgemeinen Handlungsaspekts wirtschaftspolitischer Maßnahmen lässt sich der systematische Fragenkatalog aufstellen: Wer macht was, warum und wie? Daraus lassen sich charakteristische Elemente der Allgemeinen Wirtschaftspolitik entwickeln.
Eine erste unmittelbare Charakteristik folgt aus der Zielrichtung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen und den Maßnahmen im instrumentalen Sinn selbst: Ziele und Mittel der Wirtschaftspolitik. Zusammen mit dem Träger der Wirtschaftspolitik, der den Akteur der Maßnahmen bezeichnet, bilden sie die Kernstruktur der Allgemeinen Wirtschaftspolitik.
Die Frage nach dem Wie führt erstens zu der Forderung der Rationalität der wirtschaftspolitischen Maßnahmen. Rational im grundsätzlichen Sinn von vernünftig, einsichtig und zweckmäßig verweist auf die Notwendigkeit, dass zwischen den eingesetzten Mitteln und den damit zu erreichenden Zielen ein Zusammenhang bestehen muss, der sich auch wissenschaftlich begründen lässt. Für diese wissenschaftliche Begründung ist wiederum die Anwendung einer bestimmten Methodik der Wissensgewinnung maßgeblich. Als weitere charakteristische Elemente der Allgemeinen Wirtschaftspolitik bestehen somit der wirtschaftspolitische  Ziel-Mittel-Zusammenhang als inhaltliche und formale Beschreibung der zugrunde liegenden ökonomischen Theorie und die Methodologie, mittels derer diese ökonomische Theorie entwickelt wurde. Die Methodologie ist nicht zuletzt deshalb von hoher Bedeutung für die Allgemeine Wirtschaftspolitik, weil sie maßgeblich für die politische Akzeptanz einer wirtschaftspolitisch angewandten ökonomischen Theorie ist.
Die zweite Antwort auf das Wie der wirtschaftspolitischen Maßnahme verweist auf den  wirtschaftspolitischen Prozess. Wirtschaftspolitische Aktionen folgen einer allgemein formulierbaren Handlungssystematik, die in einzelne Ablaufphasen untergliedert wird (Information, Entscheidung, Durchführung, Kontrolle und Modifikation). Der wirtschaftspolitische Prozess trägt dabei in sich wieder Züge der anderen Strukturelemente (Träger, Mittel und Ziele der einzelnen Prozessphasen).
Insgesamt lässt sich damit die Allgemeine Wirtschaftspolitik durch die Charakteristik der Strukturelemente Ziele der Wirtschaftspolitik, Mittel der Wirtschaftspolitik, Träger der Wirtschaftspolitik, wirtschaftspolitische Ziel-Mittel-Zusammenhänge, methodologische Grundlage der Wirtschaftspolitik und Prozess der Wirtschaftspolitik beschreiben.
V. Kritische Analyse
Da die Allgemeine Wirtschaftspolitik der Vorbereitung praktischer Realisationen wirtschaftspolitischer Maßnahmen staatlicher Instanzen dient, die einen Eingriff in das individuell verantwortete Wirtschaften bedeuten, obliegt ihr nicht nur die (positive) Analyse der rein technischen Möglichkeiten, sondern auch die (normative) kritische Betrachtung der damit einhergehenden Werturteile. Ähnlich wie sich beispielsweise die Atomphysik nach heutiger Ansicht nicht nur auf die wissenschaftlich redliche Erforschung des technisch Machbaren beschränkt, sondern darüber hinaus auch die Erläuterung der gesellschaftlichen Relevanz und die ethischen Implikationen in ihre wissenschaftlichen Aussagen einbezieht, versteht sich die moderne Theorie der Allgemeinen Wirtschaftspolitik als in die allgemeine Gesellschaftspolitik eingebunden. Fragen der  Ethik, der Freiheit und des Rechts werden aus der Gesamtbetrachtung der Allgemeinen Wirtschaftspolitik heutzutage nicht mehr ausgeklammert.

Lexikon der Economics. 2013.

Игры ⚽ Нужно сделать НИР?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Wirtschaftspolitik — ⇡ Allgemeine Wirtschaftspolitik. Literatursuche zu  Wirtschaftspolitik auf www.gabler.de …   Lexikon der Economics

  • Wirtschaftspolitik — Unter der Wirtschaftspolitik versteht man die Gesamtheit der Maßnahmen, mit denen der Staat regelnd und gestaltend in die Wirtschaft eingreift. Wirtschaftspolitik legt die Spielregeln fest, innerhalb derer die weitgehend privat organisierte… …   Deutsch Wikipedia

  • Wirtschaftspolitik: Magisches Viereck —   Rationale Wirtschaftspolitik muss auf klar definierten Zielen basieren. In Deutschland sind im Stabilitätsgesetz von 1967 vier Ziele benannt worden, an denen sich die Träger der Wirtschaftspolitik zu orientieren haben: hoher Beschäftigungsstand …   Universal-Lexikon

  • wissenschaftliche Wirtschaftspolitik — ⇡ Allgemeine Wirtschaftspolitik …   Lexikon der Economics

  • Theorie der Wirtschaftspolitik — ⇡ Allgemeine Wirtschaftspolitik …   Lexikon der Economics

  • potenzialorientierte Wirtschaftspolitik — auf dem Konzept des ⇡ Produktionspotenzials beruhender Ansatz der Wirtschaftspolitik (⇡ allgemeine Wirtschaftspolitik). Fiskal und/oder geldpolitische Aktivitäten orientieren sich an der zu erwartenden Entwicklung des Produktionspotenzials, um zu …   Lexikon der Economics

  • Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik — Die Angebotspolitik (Angebotsorientierte Wirtschaftspolitik) ist eine konjunkturpolitische Konzeption, die auf der Annahme basiert, dass Beschäftigung und Wachstum einer Volkswirtschaft in erster Linie von den Rahmenbedingungen der Angebotsseite… …   Deutsch Wikipedia

  • Keynesianische Wirtschaftspolitik — John Maynard Keynes Keynesianismus [keɪnz ] ist die in den 1930er Jahren von John Maynard Keynes aufgestellte und von seinen Anhängern weiterentwickelte staatliche Wirtschaftstheorie, in der die Globalsteuerung der Nachfrage nach Gütern und… …   Deutsch Wikipedia

  • Erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung — Gedenkmedaille zur Ausstellung. Medailleur: Carl Friedrich Voigt Die Erste Allgemeine Deutsche Industrieausstellung (auch: Allgemeine Ausstellung deutscher Industrie und Gewerbeerzeugnisse) fand 1854 in München statt …   Deutsch Wikipedia

  • wirtschaftspolitische Grundlagen — ⇡ Allgemeine Wirtschaftspolitik …   Lexikon der Economics

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”